Das bange Warten von Grizzly-Ringer Alexander Michael

Es sind schreckliche Bilder, die wir seit einer Woche aus der Ukraine erhalten. Neben den zerstörten Häusern, dem Leid der Menschen vor Ort und den vielen unschuldigen Opfern, die Tag für Tag zu beklagen sind, sind es mittlerweile Hunderttausende, die aus der Ukraine flüchten müssen, um zu überleben. Ein Martyrium erlebten Grizzly-Ringer Alexander Michael und sein Vater an der polnisch-ukrainischen Grenze. Gott sei Dank mit glücklichem Ende.

Es war ein normaler Familienbesuch von Alexander Michaels Mutter in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass Despot Wladimir Putin mit einer Invasion Russlands ernst machen würde. Doch die Lage wurde von Tag zu Tag ernster. Die Lufthansa stellte den Flugverkehr ein. Nur noch aus Lwiw (dt. Lemberg), etwa 70 Kilometer bis zur polnischen Grenze, gingen die Flieger in Richtung Freiheit. Mittlerweile überschlugen sich aber die Ereignisse. Währenddessen nahm Alexanders Vater Kontakt mit Olga* auf, die in einem Zug von Dnipro Richtung Lwiw saß. Zeitgleich telefonierte Alexander mit der Botschaft und dem Auswärtigen Amt, um seine Mutter irgendwie aus dem Land zu holen. Alles vergebens. Ein für abends geplantes Stützpunkttraining sagte der 30-Jährige zwischenzeitlich ab. Zu sehr drehten sich die Gedanken um seine Mutter, die mittlerweile in Lemberg ankam und bei Bekannten aus damaligen Studienzeiten sicher in Empfang genommen wurde. Doch die Situation spitzte sich immer weiter zu, sodass Alexander Michael und sein Vater beschlossen an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren. Rund zehn Stunden und 1.100 Kilometer lang waren sie unterwegs. Der Krieg hatte längst begonnen. „Wir wollten noch in die Ukraine fahren, hatten bis zwei Uhr nachts Kontakt mit der Mama“, erzählt Alexander Michael. Hoffnung bestand noch, dass ein Taxifahrer, der sie bereits vom Bahnhof zu den Bekannten brachte, nun auch in Richtung Grenze mitnehmen würde, was leider nicht geschah. Alexanders Mutter saß weiterhin fest. Zu diesem Zeitpunkt waren Vater und Sohn mit ihrem Auto etwa eine Stunde von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. Auf polnischer Seite wurde bereits alles abgeriegelt. Als beide um die Mittagszeit ankamen, hatten sie weiterhin Kontakt zu ihrer Mama. „Wir hatten Glück und sind letztendlich doch direkt am Grenzübergang Medyka angekommen und mussten nicht die drei Kilometer zur Grenze laufen so wie die anderen. Tausende Flüchtlinge kamen uns bereits zu Fuß entgegen. Später hatten nur Busse Zufahrt, die in Scharen Menschen in die Freiheit brachten“, schildert Alexander Michael die dramatischen Erlebnisse. Ausschließlich Frauen und Kinder sahen sie, nur nicht Olga*. Unter ihnen auch einige Männer, die aber keine ukrainische Staatsbürgerschaft haben. Während ihres etwa 20-stündigen Aufenthalts an der Grenze sahen sie die Entwicklung der Hilfsmaßnahmen. Angefangen mit einem Stand, wo es nur Wasser und Brot gab, wurde das Angebot die Flüchtlinge, nun auch warme Mahlzeiten, Kleidung, Decken und Pampers für Kleinkinder und Babys anzubieten, besser. Die Welle der Hilfsbereitschaft war und ist enorm. „Einige Männer sind auch wieder zurück in die Ukraine gegangen, weil sie ihr Land verteidigen wollen“, so Michael. Stunden um Stunden verstrichen. Noch immer banges Warten bei eisigen Temperaturen. Und Alexanders Mutter? Sie schaffte es bis etwa 30 Kilometer per Mitfahrgelegenheit mit dem Auto Richtung polnisch-ukrainischer Grenze.  Ab da waren alle Straßen dicht. Tausende Autos steckten im Stau. Es ging nichts mehr vorwärts. Olga ging zu Fuß weiter. Sie war nicht allein. In Strömen machten sich die Menschen auf. Anfangs noch mit viel Gepäck, das sie dann, je länger sie unterwegs waren, auch zurückließen, weil die Kräfte schwanden. Am Freitagnachmittag erreichte gegen 16.45 Uhr Alexander und seinem Papa die Nachricht, dass die Mama nun an der Grenze angekommen ist. Doch mit dem Aufmarsch zig-Tausender Menschen, die alle zeitgleich versuchten, Kontakt mit Familienangehörigen und Unterstützern aufzunehmen, brach das Handynetz zusammen. „Wir wussten überhaupt nicht, wo die Mama ist. Schon auf der polnischen oder gar noch an der ukrainischen Seite? Eine Kontaktaufnahme war nicht möglich.“ Die Zeit verstrich, wenn auch sehr langsam. Die Menschenmassen wurden einzeln durch einen extra aufgebauten Käfig wie Tiere durchgeschleust. Unteressen spielten sich dramatische Szenen ab. Eine Ordnung gab es längst nicht mehr. Laut späterer Erzählungen von seiner Mutter habe sich eine arabische Gruppe sehr aggressiv verhalten. Sie kletterten über Zäune, stiegen auf Frauen und Kinder drauf. Einige wenige Personen haben die Lage vor Ort zum Eskalieren gebracht. Es gab Schlägereien, sogar Kinder fielen in Ohnmacht. „Auf ukrainischer Seite war es die Hölle“, hörte Alexander Michael von Betroffenen. Freudentränen über die gelungene Flucht, weinende Frauen, die zum Teil ihre Kinder hinterherzogen, weil sie kraftlos waren. Jeder wollte so schnell wie möglich in die Freiheit gelangen. Es sind verängstigende, auch schockierende Bilder, die Alexander Michael und sein Vater zu Gesicht bekamen. Immer wieder heulten die Sirenen. Das bange Warten auf Verwandte und Bekannte. Bei vielen waren zwischenzeitlich die Akkus leer oder wie im Fall von Alexander Michael und seinem Vater gab es schlicht keinen Kontakt. Doch gegen 7 Uhr am Samstagmorgen erblickte der Grizzly-Ringer im Tumult Tausender seine Mutter, die er glückselig in die Arme schließen konnte. Olga erfuhr erst in Lemberg selbst, dass der Krieg ausgebrochen war. Kampfjets flogen über die Stadt, die Sirenen heulten permanent. Obwohl die Mama wieder mittlerweile in Nürnberg zurück ist, gehen die Blicke täglich in die Ukraine. Denn Olga hat dort noch Familienangehörige, die aufgrund der prekären Lage gezwungen sind, vor Ort auszuharren. Zu riskant und gefährlich wäre die lange Reise in die Freiheit.

*Name geändert

Bild: © Pixabay

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